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Nicolas Charaux
Foto: Matthias Horn

„Gewalt als ein Pendant zu der Liebe“

26. August 2020

Regisseur Nicolas Charaux über „Romeo und Julia“ und Theater in Coronazeiten – Premiere 09/20

engels: Herr Charaux , warum müssen Shakespeares Romeo und Julia bis in alle Ewigkeit auf einer Bühne sterben?

Nicolas Charaux:Weil Shakespeare es so geschrieben hat! Das steht im Text. Warum sagt Hamlet etwa „Sein oder Nichtsein“?

Und warum inszeniert man das immer noch, immer wieder?

Das ist eine gute Frage. Am Theater inszeniert man gerne klassische Stoffe. Das frage ich mich auch, warum. Warum inszeniert man immer noch so oft Shakespeare?

Gute Geschichten, gute, komplexe Dramaturgie?

Ich bin kein Theoretiker, ich habe keine Doktorarbeit über Shakespeare geschrieben. Ich weiß natürlich, „Romeo und Julia“ ist ein früheres Stück, wo es einen guten Plot gibt, vielleicht sogar ein Blockbuster, wo man in seinen jungen Jahren aber das Schriftstellergenie schon spürt. Es gibt nicht so viele politische und philosophische Auseinandersetzungen wie in anderen Werken Shakespeares. Aber für mich steckt da viel drin.

Man weiß gar nicht genau, warum sie sich überhaupt hassen“

Es geht in dem Stück um den Kampf zweier Familienclans. Familienclans haben ja Konjunktur in Europa. Die funktionieren wie die Clans bei Shakespeare in Verona. In Deutschland werden sie gerade aufs Heftigste von der Politik bekämpft. Ist das auch ein Aspekt, der in Ihrer Inszenierung oder in zeitgenössischen Inszenierungen allgemein eine Rolle spielt?

Heute kämpft die Polizei gegen arabische Familien, die sind die Gegner wie die staatliche Ordnung und die Migranten. Ich glaube, das kann man so nicht vergleichen. Aber natürlich gibt es auch in „Romeo und Julia“ die Gewalt. Für mich ist der Konflikt zwischen den zwei Familien, diese Blutfehde, ein Vertreter für eine Art Urkonflikt oder Urhass. Man weiß gar nicht genau, warum sie sich überhaupt hassen, sie hassen sich einfach und sie hassen sich zu Tode. Ich sehe die Gewalt auch eher als ein Pendant zu der Liebe. Was könnte der Liebe am meisten in die Quere kommen? Aus einer Familie zu stammen, wo man sich gegenseitig hasst? Wenn man sich verliebt, gründet man seine eigene Familie, ohne seine Wurzeln zu verleugnen. Der Hass dient eher der Kraft der Liebe und der Sehnsucht nach der anderen/dem anderen Geliebten. Man könnte es natürlich auch politisch lesen, aber ich denke, da gibt es andere Stücke, die interessanter wären. Als Beispiel einfach zu sagen, Israelis und Muslime, die hassen sich, käme mir zu schnell, ist zu leicht verknüpft, damit nicht wirklich interessant für mich. Aber in „Romeo und Julia“ gibt es eine Grundaggression wie eine Art Bürgerkrieg. Und die Stimmung in Verona ist wirklich am Ende. Da könnte man Bezüge zu heute sehen. Nicht wegen zwei Parteien, die sich hassen, sondern im Sinne dieser Grundaggression. Es kommt leicht zu Krawallen. Wenn ich mich auf Frankreich beziehe: Ich denke da sofort an die Gelbwesten, die Leute gehen auf die Straße, wegen der Rente, wegen den Corona-Maßnahmen. Diese Grundgewalt sehe ich auch in Romeo und Julia. Da herrscht Notstand und das ist sehr zeitgenössisch.

Da herrscht Notstand und das ist sehr zeitgenössisch“

Die Moralvorstellung, die Shakespeare beschreibt, wenn Eltern die Tochter in eine Ehe zwingen wollen, hat sich in den westlichen Gesellschaften stark verändert. Durch Migration spielt das heute wieder eine Rolle. Ist das auch ein Problem, das sich stellt, wenn man das Stück auf die Bühne bringt?

Nicht wirklich. Ich denke, Druck spürt man immer noch. Druck der Familie ist immer da. Das sind heute ganz andere Zwänge. Man zwingt kein Kind zu heiraten, aber es gibt Druckmittel und Druck. Ich glaube, auch in westlichen aufgeklärten Familien fühlen sich viele von den Eltern unter Druck gesetzt. Eine Firma zu übernehmen, nicht den in deren Augen falschen Mann, die falsche Frau zu wählen.

Wie inszeniert man denn eine Liebesstory zwischen Messerstechereien zu Corona-Zeiten, mit zwei Meter-Abstand?

Ich glaube, sehr viele Stücke kann man leicht mit zwei Meter Abstand inszenieren. Es gibt ein Stück, wo man nicht drum herum kommt, und das ist „Romeo und Julia“. Aus zwei Gründen: Einmal wegen der Kämpfe und wegen dieser jungen Energie. Das sind junge Menschen, die sind voller Energie, die gehen immer aufeinander zu und sei es nur um sich zu begrüßen. Da geht es die ganze Zeit um Vereinigung, Verschmelzung. Und diese Vereinigung ist notwendig um die Trennung abzuheben. Weil sie dann getrennt sind und das die Frage aufwirft, wie sie wieder zusammenkommen können – was sie letztlich natürlich nicht tun… Aber dafür muss man vorher die Vereinigung erzählen. Wie wir das lösen, werden Sie sehen! Das ist auf jeden Fall eine spannende Herausforderung. Es ist im Grunde das perfekte Stück für die Corona-Zeit, weil es das perfekte Stück ist, sich mit den Maßnahmen auseinanderzusetzen.

Es ist im Grunde das perfekte Stück für die Corona-Zeit“

Könnte man dieser tragischen Unaufhaltsamkeit auf der Bühne nicht irgendetwas entgegensetzen?

Klar, man kann alles machen. Man kann zeigen, wie sie wieder aufstehen und sich küssen. Das ist dann aber nicht mehr, wie Shakespeare es geschrieben hat. Man muss wissen, ob es für einen Sinn macht. Das Stück erzählt eine Geschichte, die Inszenierung interpretiert etwas, erzählt eine andere Geschichte. Natürlich kann man es anders erzählen.

Wie in der Fassung von David Garrick im 18. Jahrhundert, wo beide in einer zugefügten Szene erst nach einem langen Liebesdialog sterben?

Nein, die Szene nehmen wir nicht, aber wir machen was in die Richtung, allerdings ohne Text.

Ist die riesige Bühne der Wuppertaler Oper dabei ein Vorteil oder ein Nachteil?

Die ist schwer zu bespielen, die ist wirklich sehr groß. Aber jetzt in der Corona-Zeit ist sie eindeutig ein Vorteil. Man könnte dort sechs Meter Abstand halten.

Romeo und Julia | R:Nicolas Charaux |19.(P), 25.9., 9.10. je 19.30 Uhr, 1.11. 18 Uhr | Opernhaus Wuppertal | 0202 563 76 66

INTERVIEW: PETER ORTMANN

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