Auch auf die ersten zwei Jahrzehnte in Deutschland trifft dieser Name zu: Es stürmte und pfiff durch die Wilhelminische Ära, und die Weimarer Republik, Armut und Reichtum vollführten Kapriolen, der Erste Weltkrieg veränderte wieder alles, auf rauschende Feste folgte sozialer Notstand, und die Bevölkerung verfiel den Demagogen – und die Kunst, die der Zeitschriften-Verleger und Galerist Herwarth Walden den Berlinern zeigte, war nicht etwa vertraut oder tröstlich, sondern etwas für Eingeweihte: Er präsentierte Fremdes und das Allerneueste. Er widmete sich den Protagonisten der Künstler-Avantgarde, oft machte erst er sie bekannt. Walden berichtete ab 1910 in seiner „Wochenschrift für Kultur und die Künste“ „Der Sturm“ von ihnen und stellte sie dann ab 1912 in seiner gleichnamigen Galerie aus, mit der er einen langen Atem hatte: Sie bestand durch alle Wirren der Zeit bis 1929, ohne dass sich Walden in all den Jahren stilistisch festgelegt hätte. Aber er wusste, was passierte und was wohin gehörte. So zeigte er inmitten seines hochmodernen „Herbstsalons“ 1913 eine Gedächtnisausstellung für den „Naiven“ Henri Rousseau. Und deshalb sind dessen „fröhliche Spaßmacher“ (1906) aus der Sammlung des Philadelphia Museum of Art nun auch inmitten der Schau in Wuppertal zu sehen.
Überhaupt beeindruckt die Vielzahl der Meisterwerke in der Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Kunsthistorischen Institut der Universität Düsseldorf im Von der Heydt-Museum eingerichtet ist und von Antje Birthälmer kuratiert wird. Zu den Künstlern, die hier vertreten sind, gehören Umberto Boccioni, Robert Delaunay, Lyonel Feininger, Alexej von Jawlensky und Oskar Schlemmer. Schade nur, dass die Ausstellung über die Wandtexte hinaus nicht dezidierter auf das gesellschaftliche Milieu und das politische Klima dieser Jahre eingeht. Der Blick auf die zeitgleiche Literatur, die doch fester Bestandteil der Zeitschrift „Der Sturm“ war, unterbleibt ebenfalls. Und dabei wäre die Avantgarde so weiter zu verorten gewesen und vielleicht die Konzeption von Herwarth Walden, überhaupt der damalige Stilpluralismus, verständlicher. Um nur die kulturellen Hauptlinien zu nennen: Herwarth Walden war als Verleger und Galerist besonders engagiert für den Expressionismus und die Abstraktion, Dada und Konstruktivismus, Orphismus und Futurismus und zwar in der Malerei wie auch der Skulptur – so darf er als Entdecker von Alexander Archipenko gelten – und gründete 1918 die „Sturm“-Bühne mit Lothar Schreyer als Leiter.
Herwarth Walden, der 1878 unter dem Namen Georg Lewin als Sohn eines jüdischen Arztes in der Mark Brandenburg geboren wurde und in Berlin aufgewachsen war, hatte bereits bei mehreren Theaterzeitschriften gearbeitet, als er mit einer eigenen Zeitschrift eine Erneuerung der ästhetischen Wahrnehmung im Sinn hatte. Mitstreiter der ersten Stunde war der Wiener Publizist Karl Kraus, auf künstlerischer Seite kam Oskar Kokoschka hinzu. Den Namen „Der Sturm“, den Walden dann auf die Galerie übertrug, soll übrigens die Lyrikerin Else Lasker-Schüler gefunden haben, die, aus Elberfeld stammend, mit ihm von 1903 bis 1912 verheiratet war. In der Hauptstadt Berlin war die Galerie natürlich am rechten Ort. Im März 1912 eröffnete Walden mit den Künstlern des „Blauen Reiter“, allen voran Kandinsky, Macke und Marc. Schon seine zweite Ausstellung teilte mit, dass er die Moderne als internationales Phänomen verstand: Er zeigte nun Werke der italienischen Futuristen. Auch während des Ersten Weltkriegs fanden Ausstellungen statt, etwa mit den Bauhauskünstlern (Itten und Muche). Die Ausländer Kandinsky und Chagall waren selbst in diesen Jahren in der Galerie vertreten. 1919 zeigte Walden als erster die Merz-Arbeiten des Dadaisten Kurt Schwitters, ehe er sich konstruktiven Tendenzen zuwendete und damit seine Kontakte zur osteuropäischen Kunst vertiefte.
Engagement in wechselhafter Zeit
Die Künstler wussten das Engagement von Walden in wechselhafter Zeit zu schätzen; schließlich hatte er etlichen von ihnen die erste Einzelausstellung ausgerichtet und zeigte wiederholt ihre Werke. Die Verbundenheit zum Galeristen kommt in Wuppertal in den Portraits von Walden und von Else Lasker-Schüler und seiner zweiten Frau Nell zum Ausdruck. So ist am Ende der Saalflucht schon von weitem die Portraitplastik von William Wauer zu sehen: Sie stellt in abstrakter Stilisierung Walden als entschlussfreudigen und beherrschten Denker vor. Erfreulicherweise zeigt die Ausstellung weitere Plastiken von Wauer, der heute allzu sehr in Vergessenheit geraten ist.
Ein Verdienst der Wuppertaler Ausstellung ist, dass sie gleichberechtigt neben den Berühmtheiten Künstler präsentiert, die nie größere Bekanntheit erlangt haben. Ein eigener Raum ist den Künstlerinnen in Waldens Galerie eingerichtet. Außer Gabriele Münter oder Sonja Delaunay gehört dazu auch die aus Barmen stammende Emmy Klinker.
Freilich, die Geschichte hat kein gutes Ende, nicht für Walden und nicht für den „Sturm“. 1924 ließen sich Walden und seine Frau Nell scheiden, die Galerie lief in den folgenden Jahren schleppend und endete schließlich. 1932, kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, emigrierte Walden nach Moskau, wohin er schon in den zurückliegenden Jahren gereist war. Dort blieben ihm und seiner dritten Frau nur wenige Jahre. Unter dem Vorwurf der Spionage 1941 verhaftet, starb er im gleichen Jahr im Lager Saratow. Auch das erwähnt die Ausstellung im Von der Heydt-Museum. Vor allem aber sind hier großartige Bilder zu sehen, welche Walden als erster in seiner Galerie gezeigt hat und die heute auf rund 40 Museen in der ganzen Welt verteilt sind: Ein Platz im Olymp der Kunst ist Herwarth Walden sicher.
„Der Sturm – Zentrum der Avantgarde“ I bis 10. Juni im Von der Heydt-Museum I www.sturm-ausstellung.de
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