Der menschliche Körper in der Bildhauerei erfuhr ab 1850 höchst unterschiedliche Ausbildungen: zunächst klassizistisch nach antikem Ideal, expressiv-dynamisch zur Jahrhundertwende, geometrisch-abstrakt in der Nachkriegskunst. Im Skulpturenfundus des Von der Heydt-Museums schlummern viele Meisterwerke aller Epochen, Materialien und Techniken, die aus Raumnot bislang selten angemessen gezeigt wurden. Nun durften 45 Menschenfiguren für Monate das Depot verlassen, zogen um in den Skulpturenpark und machen in zwei Glaspavillons „bella figura“ – bei Tageslicht mit Blick ins Grüne. Mit ihrer ersten Kooperationsausstellung arrangierten die beiden Wuppertaler Kunstinstitutionen einen inspirierenden Crashkurs durch 130 Jahre „Figur!“.
Dabei geht es weniger um ein Who is Who, obwohl natürlich berühmte alte Bekannte vertreten sind. Barlachs singender Mann, Rodins Schreitender, Degas Tänzerin, Kollwitz Liebespaar, Werke von Lehmbruck, Arp u. a., daneben aber auch echte Entdeckungen, die der Multimediaguide via QR-Code vorstellt. Denn alle Skulpturen stehen namenlos auf ihren Sockeln – als offenes Wahrnehmungsangebot zum Umrunden und genauen Betrachten, um sich die individuellen künstlerischen Ansätze und den historischen Wandel der skulpturalen Konzepte im vergleichenden Sehen zu erschließen. Daher haben sich die Kuratoren Tony Cragg und Roland Mönig gegen chronologische Parcours entschieden und in beiden Hallen packende Konstellationen und Blickachsen inszeniert.
Zum Einstieg spannt der untere Glaspavillon mit den ersten drei Bronzen den Bogen über Zeiten und Stile: von C. D. Rauchs „Siegesgöttin“ (1850/51) über Karl Albikers „Stehenden Jüngling“ in exaltierter Pose (1910/11) bis hin zu Alfred Hrdlickas sich entkleidenden Dame in ihrer drallen Leiblichkeit (1979/80). Bezaubernd sind Renée Sintenis „Haaraufbindende“ (vor 1925), das „Mädchen mit Katzen“ in schwungvoller Drehung (Nikolaus Friedrich, 1900) und die ergreifende lebensgroße Holzschnitzerei eines ausgezehrten „Nackten Jungen“ von Christoph Voll (1925), platziert mit dem Rücken zur edlen Fabrikantenvilla, die hinter ihm durch die Glasfront schimmert. Allerdings geht in dieser Halle das Konzept Tageslichtpräsentation nicht wirklich gut auf, da die hohen, dicht belaubten Bäume rundum den Raum mächtig abdunkeln und Details verschatten.
Dagegen ist die ovale Ausstellungshalle am anderen Ende des Parks ein wahrer Lichtblick. Ihr freier Standort und die riesige gebogene Glasfront offenbaren ein facettenreiches Ensemble, dessen pointierte Anordnung sich sofort erschließt. Bei jedem Schritt durch den Raum knüpfen sich neue Verbindungen aus reiz- und humorvollen Kontrasten. Hier Loths plumper dunkler „Torso“, dort die marmorne „Penelope“ im perfekten Faltengewand. Richiers spirrige „Gottesanbeterin“ und Armitages „Menschen im Wind“ sind einander zugeneigt, dazwischen Chadwicks „2 Wächter“, die sich gegenseitig beäugen, und Uhlmanns spröde „Stahlplastik“, die mit Blick auf Giacomettis gelängte Frauenfigur menschliche Züge gewinnt. Hier funktioniert der Durchblick. Und auch die anderen Besucher werden Teil des Spiels der Körper im Raum.
Figur! Meisterwerke der Skulptur aus dem Von der Heydt-Museum | bis 20.8. | Skulpturenpark Waldfrieden, Wuppertal | 0202 47 89 81 20
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