Die Häuser kippen, schaukeln, fallen wie Karten auseinander, stehen Kopf. Ihre Verstrebungen, Raster und Kuben türmen sich verschoben übereinander. Das Innere ist nach außen gekehrt, und folglich sieht der Betrachter von drinnen nach draußen, wo tatsächlich das innere Zentrum der Skulptur ist: So grotesk und logisch kann es in den Werken von Thomas Virnich zugehen. An anderer Stelle verwandelt sich die Architektur in wucherndes Wurzelwerk. Im Kopfüber werden die Bäume, die aus den Dächern wachsen, zu klobigen Beinen. Oder: Als Schiff oder Flugzeug sind die Konstruktionen in die Länge gezogen, sie wirken mehr wie geschwungene Linien und Schubfächer mit einem kleinteiligen Geschehen. Oder sind das Schlangen, Reptilien, die sich wie eine Ziehharmonika strecken und krümmen? Unterstrichen wird die Lebhaftigkeit durch partielle Farbsetzungen, die noch zu tropfen scheinen und das Filigrane der Erscheinung unterstützen.
Die Ausstellung von Thomas Virnich im Skulpturenpark Waldfrieden ist eine Sensation, im wortwörtlichen Sinne: Man kann sich an diesen architektonischen Konstruktionen und Dekonstruktionen im maßstäblichen Miniaturformat nicht sattsehen. Es geht um die stabile Tektonik der Behausung in Verbindung mit Bewegung und damit auch um das Reisen und das Nomadisieren. Die Sesshaftigkeit wird ad absurdum geführt, wenn die Häuser als Raumschiffe oder Planeten auftreten. Das Begreifen aber läuft über die assoziative Kombinatorik, das Umrunden und den Blick aus verschiedenen Perspektiven. Bei diesen Werken werden wir zu Archäologen, indem wir Bezüge freilegen und Zusammenhänge herstellen. Dabei bleiben Virnichs Werke pitturesk und fantastisch überbordend wie die barocken Wunderkammern. Zugleich sind sie eine Lehrstunde der (zeitgenössischen) Skulptur und ihrer Beziehung zur Welt: zu alltäglichen Bauwerken und zur Konstitution des Menschen gemäß der Schwerkraft, die ihrerseits aufgehoben scheint.
Thomas Virnich ist in seinen Werken verspielt und präzise, subjektiv im Umgang mit den objektiven Gegebenheiten, wobei unterschiedlichste Gebäudetypen zur Verfügung stehen, auch Kathedralen. Er baut zunächst Modelle, die er zerteilt und neu zusammenfügt und mit weiteren Elementen kombiniert und dann zumeist in Keramik oder Bronze gießt. Extra für die Wuppertaler Ausstellung hat er zwei monumentale Skulpturen geschaffen: „Helter“ und „Skelter“ – das heißt: Hals über Kopf. Die eine Skulptur ist die Umkehrung der anderen, wodurch wir verschiedene Einblicke erhalten und uns schließlich an den Verläufen des Giebels und der Reihe der Rundfenster orientieren. Grundlage ist das Modell des alten Schulhauses in Mönchengladbach, wo Virnich seit Mitte der 80er Jahre mit seiner Familie lebt und arbeitet, wo er seine Werkstatt mit den Brennöfen und sein Lager hat, mit Gewölben und Kellern. Indem er daraus das Unterste nach oben kehrt, entsteht seit 2000 die Werkgruppe der „Fliegenden Katakomben“: schon das ein Paradoxon.
Virnich wurde 1957 in Eschweiler geboren, bereits 1987 wurde er zur Documenta nach Kassel eingeladen; seit 1992 lehrt er als Professor an der Kunstakademie Braunschweig, zugleich ist er mit seinen Arbeiten in den wichtigen Museen mindestens hierzulande vertreten. Teil seines skulpturalen Programms sind von Anfang an auch polygonale Körper mit glatten Oberflächen. Der zunächst geschlossene Block lässt sich in mehrere Teile zerlegen, wobei ein Kern zum Vorschein kommen kann und herauszunehmen ist, wie jetzt bei einer Skulptur vor dem Pavillon in Waldfrieden. Für Thomas Virnich sind der geschlossene und der offene Zustand gleichermaßen gültig als Teil seines bildhauerischen Programmes. Für den Betrachter aber sind sie, nicht zu vergessen, ein atemberaubendes visuelles Vergnügen.
„Thomas Virnich – Helter Skelter“ | bis 21.2. | Skulpturenpark Waldfrieden | 47 89 81 20
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