„Sempre più“ ist diesmal der Wächter des Ausstellungs-Pavillons. Mit einer Höhe von 6 Meter direkt davor platziert, sieht man vom Eingang des Skulpturenparks aus zunächst die Rückseite mit der Holzkonstruktion und erst dann den monumentalen männlichen Torso aus Zedernholz. Davor liegen flache Scheiben aus Kupfer und Silber wie antike Münzen und greifen den Farbklang der Skulptur auf. Der Kopf des Mannes mit den dunklen Haaren ist leicht zur Seite und nach vorne geneigt und sorgt so mit seiner ganzen Büste für die formal ausgeglichene Komposition. Sein Blick ist skeptisch, aufmerksam lugend und sehr konkret. Mit seiner Nacktheit kommt eine erzählerische Dimension hinzu, die wir nicht recht zu fassen wissen und die noch unterstreicht, dass wir es nicht „einfach“ mit einer überlebensgroßen realistischen, virtuos aus dem Block geschlagenen Holzskulptur zu tun haben. Balkenhol hat diese Figur vor Jahren für die Präsentation im Forum Romanum geschaffen, sie ist vom Typus der antiken Skulptur abgeleitet, und dieser Bezug ist nun auch ein Leitmotiv der Ausstellung im Skulpturenpark Waldfrieden: Die Zusammenführung der klassischen Bildhauerkunst mit einem heutigen Lebensgefühl.
Dabei ist „Sempre più“ (d.h. „Immer mehr“) für Balkenhols Arbeit ziemlich typisch: im handwerklichen Vermögen, im sorgfältigen Realismus mit der genauen Beobachtung von Details, in der aufgerauten, vitalen Oberfläche des Holzes und im sparsamen naturalistischen Setzen von Farbe – und auch in der Nähe zum heutigen Menschen im Aussehen, in der Körperhaltung. Stephan Balkenhol, der 1957 in Fritzlar/Hessen geboren wurde und heute eine Professur an der Kunstakademie Karlsruhe inne hat, zählt mit solchen Werken zu den wichtigsten Bildhauern unserer Zeit in Deutschland. Seit Anfang der 1990er Jahre ist er mit seinen Holzskulpturen und Zeichnungen im Ausstellungsgeschehen und besonders auch im öffentlichen Raum – auf zentralen Plätzen und in Shopping-Passagen – präsent. Sein „Gegenstand“ ist von Anfang an der Mensch; daneben entstehen Skulpturen mit Tieren, die den humorvollen Ton, den schon viele seiner Menschendarstellungen tragen, verstärken. Die Figuren befinden sich auf Sockeln oder kommen als Relief aus der Wand: Sie gehören hier der Kunstsphäre an, in der sie unserem abtastenden Blick ausgesetzt und meist zu umgehen sind. Sie weichen grundsätzlich deutlich von der Lebensgröße ab und sind entweder riesig oder sehr klein; manchmal überragen sie uns auf meterhohen Stelen.
„Prototypisch“ für das Werk von Balkenhol ist der aufrecht stehende Mann, der, sorgfältig und zugleich leger gekleidet, mit (meist weißem) Hemd und schwarzer Hose und mit seiner Frisur durchschnittlich modern in unserer Gesellschaft wirkt. Balkenhols Skulpturen tragen etwas Eingängiges, sie sind sofort zu verstehen – aber je mehr man über sie nachdenkt, desto komplexer werden sie. Dies beginnt schon mit ihren Körperhaltungen, die das ganze Spektrum von Liegen über Sitzen zu Stehen umfassen, und mit der schrundigen Oberfläche, die wie Haut zu pulsieren scheint und noch den sukzessiven Entstehungsprozess vergegenwärtigt. Sie sind verbindlich, konkret und tragen doch noch eine geistige Komponente, sie verdichten die Idee von Körperlichkeit und übertragen Material in Form. Der Realismus von Stephan Balkenhol hat oft genug die Kritiker gespalten: Kann oder muss man heute so traditionell figürlich arbeiten? Ja: Es geht, und zwar vorzüglich. Und dass die Skulpturen von Balkenhol immer auch einen hohen konzeptuellen Anteil tragen, dass sie Individualität und Typus vereinen, Geschichte zitieren und auf ihrer heutigen Präsenz beharren, auch das unterstreicht jetzt die Ausstellung im Skulpturenpark Waldfrieden.
„Stephan Balkenhol – Skulpturen“ | bis 12.10. | Skulpturenpark Waldfrieden | 0202 47 89 81 20
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