Schon komisch. Das Fat House – im Skulpturenpark Waldfrieden direkt neben der Villa errichtet – erinnert im Zueinander von tektonischer Symmetrie und biomorpher Weichheit an ein Gesicht. Das Weiß der Fassade quillt wulstig nach außen, wie aus dem Leim gegangen, überhaupt wirkt das Fat House ungesund. Was wir sehen, ist ein deformiertes Einfamilienhaus im Grünen: der Traum des Häuslebauers, der sich hier zum Albtraum der Degenerierung im Spießertum verwandelt – ein Hauptwerk von Erwin Wurm.
Der 1954 geborene österreichische Künstler gehört schon seit längerem zu den wichtigen Bildhauern der Gegenwart. Seine Beiträge thematisieren in einer anschaulichen, realistischen Bildsprache Phänomene der Gesellschaft. Sie hinterfragen unsere Einrichtung in Konventionen, dabei behalten sie die Frage der skulpturalen Übersetzung im Blick. Bekannt wurde Wurm besonders mit seinen performance-artigen „One Minute Sculptures“, bei denen sich der Ausstellungsbesucher – für kurze Zeit – in eine Skulptur „verwandelt“. Überhaupt orientieren sich Wurms Arbeiten am Radius unserer körperlichen Erfahrung in der Alltagswelt. Die Skulpturen handeln mit profanen Gegenständen, wobei zunehmend das Haus und das Auto ins Zentrum seiner Kunst gerückt sind: als Ausdruck und Identifikation in unserer Zivilisation, als Luxus nach innen und Statussymbol nach außen. Und Wurm stellt mit ihnen städtebauliche und ökologische Überlegungen an.
Vor und in der Ausstellungshalle im Skulpturenpark Waldfrieden zeigt er nun Modelle von Architekturen, abgegossen in unterschiedlichen Materialien in delikater Farbigkeit: in zartem Rosa (wie eine klebrige Süßspeise), im Goldton, im schmelzenden Weiß (wie ein Speiseeis), aber auch im Graphit-Ton. Wurm hat die Häuser stilisiert und ihre Erkennbarkeit auf wenige Motive reduziert, auf die tektonische Konstruktion, das Dach, ein Band aus Fenstern, eine Treppe. Die Häuser geben ihre Struktur auf, sie scheinen zu verfließen, sind eingedellt oder durchschossen, so dass man durch sie blicken kann. Das trägt etwas reizvoll Abstraktes im Aussehen, ist andererseits gewaltsam, vielleicht aggressiv entstellt, es wirkt grotesk und verursacht Ratlosigkeit, und das eine Gefühl ist nicht vom anderen zu trennen. Das unterschwellige Grollen wird lauter, wenn wir um die Werktitel und deren Bedeutung wissen. Erwin Wurm zeigt Gebäude, die es gibt. Dazu gehören das RAF-Gefängnis in Stammheim und der Wiener „Narrenturm“ als geschlossene Psychiatrie und der Hochsicherheitstrakt St. Quentin – Einrichtungen, die allesamt auf die Kontrolle und Beherrschung anderer Menschen hin angelegt sind.
Wie diese Skulpturen entstanden sind, teilen dann in der Villa Waldfrieden drei kurze, künstlerisch autonome Videofilme von Erwin Wurm mit. Zu sehen ist das Atelier mit jeweils einem Tonmodell, welches vom Künstler buchstäblich malträtiert wird. Wurm tritt gegen die Wände, gräbt sich mit den Ellenbogen in die Materie oder steigt auf einen Tisch und springt von dort auf das Dach. Zu Skulpturen werden nicht nur die Modelle, sondern auch der Künstler in seiner physischen Aktion. Dazu passt, dass wir ihn in den Filmen immer im Ausschnitt sehen. – Dass Wurm viele Gründe für sein Unbehagen gegenüber unserer Gesellschaft und deren Riten hat, demonstriert dann ein vierter Film: die Videoanimation im begehbaren Innenraum des Fat House selbst. Hier reflektiert das Haus als eine Art Comicfigur logisch und philosophisch seinen Status zwischen Kunstkontext und Bewohnbarkeit, merkantiler Verwertung und praktischem – existenziellem – Gebrauch. „Was aber, wenn ein Haus ein Kunstwerk ist?“, fragt das Fat House. „Ist das nicht verwirrend?“, und findet sich schließlich selbst nicht mehr zurecht: „Bin ich nun ein Haus oder Kunst?“
„Erwin Wurm – Am I Still a House?“ | bis 12.7. | Skulpturenpark Waldfrieden | 0202 47 89 81 20
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