Gleich mehrere Ausstellungen sind derzeit zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren zu sehen. Sie thematisieren das Zeitgeschehen im Kontext mit der politischen und sozialen Situation, dem industriellen Fortschritt und – vor allem – mit der Kultur. Das Von der Heydt-Museum nun hat zu diesem schlimmen Ereignis die vielleicht intensivste und eindrucksvollste Ausstellung realisiert. Unter dem Titel „Menschenschlachthaus“ und in mehreren Kapiteln wendet es sich den verschiedenen Bereichen des Lebens in diesen Jahren anhand von Texttafeln, Fotografien, Filmmaterial, aber auch Literatur zu – und vor allem anhand von Gemälden, graphischen Blättern und Skulpturen. Die Kunstwerke werden hier über das rein Ästhetische hinaus aussagekräftig. Sie berichten mit den Augen der Künstler von der Front und den Ereignissen daheim, aus deutscher aber auch französischer Sicht. Die Werke etwa von Beckmann, Belling, Grosz, Wollheim, Bonnard, Denis und Rouault hat das Von der Heydt-Museum zusammen mit dem Musée des Beaux-Arts in Reims primär aus den Sammlungsbeständen ausgewählt. Reims war die erste französische Großstadt, die von der deutschen Armee bombardiert wurde. Die Kathedrale, über Jahrhunderte Krönungsstätte der französischen Könige, wurde dabei schwer beschädigt.
Ausgestellt ist die berühmte Mappe „Der Krieg“ von Otto Dix mit Radierungen, die auf seinen Kriegserlebnissen an der Front und im Gefecht beruhen. Indirekter veranschaulicht Félix Vallotton die Dimension des Sprachlosen und Entsetzlichen, indem er einen Soldatenfriedhof zeigt; die Reihen von Kreuzen reichen bis zum Horizont, dazwischen versinken einzelne schwarze Personen wie in einem Feld, das sich in alle Richtungen erstreckt: Die unzähligen gefallenen Soldaten werden als unfassbare Menge und gleichzeitig Einzelschicksale vor Augen geführt. Paul-Hubert Lepage, Louis Montagne und Maurice Sporck wiederum fokussieren das Ereignis, das für Frankreich zu Beginn des Krieges die größte Symbolkraft besaß: Ihre Bilder zeigen die zerstörte Kathedrale von Reims.
Während Christoph Voll in seinen Federzeichnungen den Blick auf die Invaliden mit ihren Krücken richtet, schildert Heinrich Hoerle in seinem Gemälde „Denkmal der unbekannten Prothesen“ (1930) die Vernichtung des menschlichen Körpers als unpersönliche präzise Maschinerie. Ausgestellt sind auch (Selbst-) Porträts, die über das einzelne Schicksal Auskunft geben, etwa das „Selbstbildnis als Krankenpfleger“ von Max Beckmann (1915). Wie eine Vorahnung wirkt das Selbstporträt von Wilhelm Morgner von 1912. Otto Dix wiederum stellt sich in expressiv flüchtigem Duktus, ausgezehrt und mit Schrecken in den Augen, als Soldat dar (1914). Dix ist aber auch mit einem späteren Genrebild „An die Schönheit“ von 1922 vertreten, in dem er die Dekadenz der Jahre zwischen den Kriegen zum Ausdruck bringt. Indem der zeitliche Rahmen für die Kunst weit gefasst ist, ergibt sich noch ein Kaleidoskop der avantgardistischen Stile, welches aber nicht die inhaltlichen Zusammenhänge außer Acht lässt. – Nebenbei ist diese Ausstellung eine Offenbarung der Wuppertaler Sammlung: Denn über die Hälfte der Bilder stammt von hier. Dabei wird deutlich, wie sehr eine Kunstsammlung auf diesem Niveau zur Bildung beiträgt und was sich mit ihr verständlich und eindrucksvoll vermitteln lässt, abgesehen vom kulturellen Genuss, vom Wert und vom Werbeeffekt für die Kommune. Die Ausstellung, die nach einem Text von Wilhelm Lamszus (1912) „Menschenschlachthaus“ betitelt ist, ist eine hochkarätige Demonstration, was Kultur – und nur Kultur – leisten kann. Das Von der Heydt-Museum mit seiner Sammlung ist ein kultureller und gesellschaftlicher Leuchtturm ganz weit über Wuppertal hinaus.
„Menschenschlachthaus. Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst“ | bis 27.7. | Von der Heydt-Museum | 0202 563 26 26
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