In Wuppertal gibt es rund 360 Treppen, die das Gefälle für Fußgänger überwindbar und abkürzbar machen und mitunter hinreißende Blicke auf die Stadt erlauben. Nach Ostersbaum geht es zum Beispiel über die Holsteiner und die Flensburger Treppe. Während die erste etwas verwildert, läuft es sich bei der zweiten Treppe beschwingter, auf Tritt und Schritt begleitet von einem Fries in Karminrot auf weißem Grund. Silhouetten schließen wie ein Spielmannszug aneinander an, gerahmt von Schriftbändern mit vertrackten und existentiellen Fragen: „Was träumt ein Känguruh? – Wozu drehen wir uns? – Warum ist Wasser nass? ...“
Diemut Schilling, von der die Wandmalerei stammt, wohnt noch etwas weiter oben, mitten in Ostersbaum und mit Aussicht über die Stadt. Zwei Jahrzehnte haben ihren Blick für den Stadtteil geschärft. Als Künstlerin hat sie hier eine Vielzahl an Projekten realisiert, darunter seit zehn Jahren die „Lichterwege“. Nach ihrem Konzept bemalen die Anwohner Gläser, die sie, beleuchtet mit brennenden Kerzen, an einem Abend im Februar auf den Stufen platzieren, so dass 3.000 farbige Lichter für zwei Stunden den Aufstieg markieren. Später werden sie in einer Art Sternmarsch zum Brunnen am Platz der Republik getragen. Auch die Fragen der Flensburger Treppe beruhen auf Partizipation – Diemut Schilling spricht von Beteiligungsprojekten. Die Bevölkerung oder bestimmte Zielgruppen reagieren auf ihre Impulse und liefern – in den Entwürfen für Kacheln oder mit Wortbeiträgen – das „Material“, die Bildersprache, die sie wiederum in Form setzt: als Collage aus Fragmenten, die biographisch gesättigt sind.
Ausgangspunkte für dieses Vorgehen sind vielleicht ihre multimedialen Inszenierungen von Interviews Mitte der 1990er Jahre und die Erfahrungen bei der Gründung einer Jugendkunstschule in Remscheid und der künstlerischen Zusammenarbeit mit Schulklassen im Rahmen der Yehudi- Menuhin-Stiftung wie auch ihrer Mitarbeit in der Produzentengalerie "Kunstraum". Derzeit hat sie eine Gastprofessur an der GHS Siegen inne und nimmt Lehraufträge an der Bergischen Universität sowie der Fachhochschule Düsseldorf wahr.
Ihr erstes Wuppertaler Beteiligungsprojekt auf Dauer ist der Kachelfries der Bushaltestelle Schleswiger Straße 2005; später folgen der Tunnelfries Am Clef in Barmen, bei dem die Motive von 200 Jugendlichen stammen, sowie die Schleswiger Treppe. In Planung ist die Gestaltung der Pressburger Treppe. Auch erhält sie auswärts situationsbezogene Aufträge. Für den Fluss Seseke im Abschnitt Kamen etwa entsteht derzeit eine Arbeit, welche Diemut Schilling als Bildhauerin zeigt. Drei amorphe Körper aus Edelstahl tauchen im Wechsel aus dem Fluss auf, reagieren auf Wasser und Licht und lassen sich als Wal oder Felsen deuten.
Diemut Schilling wurde 1965 in Bremen geboren. Sie hat in Venedig sowie an der Düsseldorfer Kunstakademie, bei Tony Cragg, studiert. 1987 erhält sie das Karl Schmidt-Rottluff-Stipendium und 1991 den Von der Heydt-Förderpreis für ihr plastisches Werk, das sich medien- und materialübergreifend mit vielteiligen Ensembles zunächst der Spurensicherung zuordnen lässt und später mäandernde geschwungene Formen, versehen mit Ausschnitten realistischer Zeichnung, zeigt und Geschichte sowie Erinnerung thematisiert. Ihre Arbeiten sind raumgreifend und aktivieren den Betrachter, der sie umqueren muss, ihre Splitter in Gedanken zusammensetzt. – Mittlerweile koordiniert Diemut Schilling Abläufe auch im weiteren Sinne: als Choreographie, welche verschiedene Künste (auch Literatur und Philosophie) bündelt. Wie auch ihr aktuelles Projekt in fünf Teilen zu den „Entdeckertagen“ des Naturparks Rheinland, das sie gemeinsam mit Schauspielern und Tänzern teils aus dem Pina Bausch- Ensemble realisiert. Kunst ist als Entdeckung vor der Haustür soziale Verantwortung, Gestaltung des Raumes, mit dem man lebt. Daher sind die Anwohner als Betroffene so wichtig – Diemut Schilling reagiert auf Notwendigkeiten.
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