Die Uhr tickt, lautlos und unerbittlich. Das brav gekleidete Mädchen, das sich mit ausgestreckten Armen um die eigene Achse dreht, trägt einen schwarzen Sprengstoffgürtel, an dem eine Zeituhr aktiviert ist. In seiner Schuluniform, das Gesicht weiß geschminkt, lässt es vielleicht an Kubricks „A Clockwork Orange“ denken. Der Ton des Bedrohlichen aber durchzieht die gesamte Ausstellung von Maike Freess in der Kunsthalle Barmen. Mit ganz verschiedenen Medien – Zeichnung, Fotografie, Skulptur, Video und Installation – zeigt sie Situationen, in denen sich der Mensch fremd ist, seinen Körper wie von außen beobachtet und die Kommunikation mit anderen Menschen stockt. Er befindet sich in prekären Zuständen, auch wenn alles vertraut scheint. Das ist in der Ausstellung besonders im Raum mit der Installation des Mädchens der Fall. An jeder der vier Wände zeigt ein kleiner Monitor eine filmische Sequenz mit einfachen Handlungen, in Zeitlupe und als Loop. Darüber liegt eine Soundsequenz, gelegentlich begleitet vom Klacken des kinetischen Objektes.
Und dann sind da noch die schwarzen Streifen an Boden und Wänden. Ausgehend von einem skulpturalen Gerüst – als Zuspitzung, die hart durch das Raumvolumen schneidet – kehren sie sogar in der jüngsten Videoprojektion im letzten Saal wieder, hinter zwei spielenden Jungen. Als Wandzeichnung aber aktivieren sie die Ausstellungssäle, sind Leerstellen, die im „Ausgesparten“ direkt unsere Psyche berühren und beunruhigen. Sie kennzeichnen nun auch die jüngsten s/w-Zeichnungen, bei denen sich konstruktive Strenge und Expressivität verbinden. Die aufgelegten Cuts aus Papier erzeugen ein irritierendes Spiel von Illusion und Desillusion und steigern noch den Sog der Bildtiefe. Die Geschehnisse gewinnen an Fremdartigkeit, wir werden zu sezierenden Beobachtern aus sicherem Abstand. In realistischer Zeichnung sind Personen isoliert, oft wie in Trance, etwa ein Junge auf einem Stuhl, während sich um ihn die Wand in flackerndem Rapport zu drehen scheint. Oder eine Frau tastet in einer Kabine mit den Fingerspitzen nach der Scheibe, als würden ihre Arme an Fäden bewegt. Bei einem anderen Bild sind wie im Horrorfilm die Arme verdoppelt. Derart gespenstische Motive gehen in dem Look heutiger Menschen auf, mentale Befindlichkeiten kehren sich bilderreich nach außen. Winzig, auf zeichnerischen Nebenschauplätzen, marschieren Soldaten in Reih und Glied, wobei sich das Geschehen zu einer Mischung aus Altdorfers „Alexanderschlacht“, Hieronymus Bosch und Otto Dix verdichtet. Doch auch wenn Maike Freess zu den herausragenden Zeichnern hierzulande gehört, so ist dies für sie nur ein Medium unter weiteren für ihre Anliegen.
Maike Freess, die heute in Berlin lebt, wurde 1965 in Leipzig geboren. Sie hat ab 1980 an den Hochschulen in Leipzig, Halle/S. und Paris studiert. Bekannt wird sie zunächst mit Skulpturen. Dabei handelt es sich um begehbare Schächte, strukturiert durch Raster, und um serielle Konstruktionen, die an ausgreifende Gesten denken lassen und bisweilen ihre Oberfläche als Hülle betonen – Aspekte also, die auch heute in ihrem Werk eine Rolle spielen. In den daran anschließenden Videoinstallationen und großformatigen Farbfotografien erweitert Freess ihr Themenspektrum um Paarbeziehungen. Lapidare Situationen, bei denen Mann und Frau nebeneinander oder sich gegenüber sitzen, beschreiben die Unfähigkeit, den Anderen zu erreichen. Sie schildern Vergeblichkeit und Scheitern … Das erinnert dann wiederum – in einem anderen Raum – an das Tödlein, welches als Marionette eines Skeletts immer und immer wieder in den Schlamm fällt, zu sehen auf einem Monitor in einem Karteikasten, auf einem Bürotisch: Das Grauen bricht in die Normalität des Alltags ein und ist doch irgendwie ganz banal – eine sehr bemerkenswerte, noch im Detail überraschende Ausstellung.
„Maike Freess – Von blinder Gewissheit“ | bis 3.1. | Von der Heydt-Kunsthalle Barmen | 0202 563 65 71
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