Es wuchert in den Sälen des Von der Heydt-Museums. Oder sind es doch mehr mittelgroße Räume? Ein Wachstum macht sich in ihnen breit, wir denken an Stalagmiten, Wirbelsäulen und an die Visualisierung von Bewegung. Andererseits auch an die Abwesenheit jeder Zeit. Etliche dieser abstrakten Skulpturen lassen an prähistorische Versteinerungen und Muschelschalen sowie an archäologische Ausgrabungen denken, tatsächlich sind in einzelnen Räumen und an der Wand Ansammlungen von Partikeln zueinander gesetzt und verbinden sich ihrerseits zu Großformen. Die Skulpturen sind im Museum, auf Sockeln stehend oder vom Boden aufragend, auf Sichtachsen und auf Symmetrie hin arrangiert: Ausgebreitet sind so ziemlich alle Werkphasen von Tony Cragg seit dem Ende seines Studiums in London, also noch bevor er 1977 nach Wuppertal zog, schon bald Professor an der Kunstakademie Düsseldorf und später deren Rektor wurde. Als Bildhauer erlangte er bereits in den 80er Jahren Weltgeltung.
Es macht Sinn, dass hier, an seinem Lebensmittelpunkt, sein Gesamtwerk zu sehen ist. Es besetzt das gesamte Von der Heydt-Museum mit seinen drei Stockwerken; die grafischen Arbeiten hängen im Mezzanin. Die Skulpturen hat Tony Cragg vergleichend, auf Typologien hin – und dadurch nur bedingt chronologisch – geordnet. Was vor allem deutlich wird: Er entwickelt seine Werke in Reihen, variiert Formlösungen, interessiert sich für Oberflächen und Materialgerechtigkeit, verwendet dazu sehr unterschiedliche Materialien (Kunststoff, Gips, Bronze, Glas, geschliffenes Schichtholz) und erkundet deren Potential, folglich favorisiert er die Eigenfarbigkeit. Er arbeitet bei der Werkgenese und in den einzelnen Werken auf Konsequenz hin; viele seiner Plastiken sind ausgesprochen elegant und wirken organisch. Kanten und sukzessive Verschiebungen von Scheiben sind Teil des Konzepts. Er setzt additive Reihungen und scheint ursprüngliche Außenformen zu verzerren. Dabei ist Cragg ein Magier in der Erfindung von Formen. Teil der Oberfläche ist die Struktur unter dieser: In einzelnen Werken gräbt er sich in die Tiefe, macht feste Körper weich oder schafft offene netzartige Flächen, die ihren Kern als Umstülpung ihres Gewebes erst erzeugen. Und bei aller Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, welche den Werken eigen ist, wird das Ringen an der Form deutlich. Ursprung aber sind häufig Phänomene der Natur und Überlegungen zum „Eigentlichen“ und „Zeitgenössischen“ von Skulptur. Die Ausstellung zeigt, dass Tony Cragg diese Fragen schon zu Beginn seines Werkes angetrieben haben.
Großartig ist natürlich, dass auch das frühe prozesshafte Werk zu sehen ist, das dem konzeptuellen Klima der 70er Jahre in London entstammt. Schon davor, in seinem „normalen“ Leben, hat Cragg Erfahrungen gesammelt, die seine Kunst voranbringen: Er arbeitet 1966-68 als Labortechniker und er interessiert sich für Paläontologie – visuelle Bereiche, die von Mal zu Mal bis heute im künstlerischen Werk mitschwingen. So arbeitet er in den 80er und 90er Jahren auch mit Röhrenformen, welche sich nun als Ready-mades durch den Raum winden. Auch verwendet er Weingläser, die er sandgestrahlt zu überbordenden Ensembles auftürmt, welche vom Betrachter zu umgehen sind. Dies gilt ohnehin für die neueren Säulen, die sich in die Höhe schrauben, und seine Anamorphosen, die aus einer bestimmten Perspektive Gesichter erkennen lassen. Selbst da ist Cragg ganz Bildhauer, der den Schaffensprozess in die Formlösung einbezieht.
Zu Ausstellung gehört im Grunde auch der Skulpturenpark Waldfrieden, initiiert von Tony Craggs Stiftung und von ihm selbst kuratiert. Dort sind derzeit die Gipsplastiken von Henry Moore in den Pavillons ausgestellt. In der Landschaft aber sind Craggs große Skulpturen aus verschiedenen Schaffensphasen zu sehen: Sie machen überall gute Figur.
„Tony Cragg – Parts of The World“ | bis 14.8. | Von der Heydt-Museum | 0202 563 26 26
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