Auch wenn die Möglichkeiten der Computergrafik immer ausgefallener und unsichtbarer werden, beim japanischen Anime, einem filmischen Genre, bei dem man die neueste Technik hinter den laufenden Bildern immer vermuten würde, spielt sie nur eine begleitende Rolle. Noch immer sitzen die Zeichner mit Bleistift und Pinsel vor Papierstapeln, um den Filmen diese unnachahmliche Optik zu geben.
engels: Herr Riekeles, ist Heidi in Japan in der postatomaren Apokalypse angekommen?
Stefan Riekeles: Aus heutiger Sicht ist Heidi für Anime interessant, weil in den 1970er Jahren in Deutschland kaum jemand wusste, dass es eine japanische Produktion war. Andererseits ging auch das japanische Publikum davon aus, dass es keine japanische Produktion ist, weil es in den Bergen in Europa spielt und nicht besonders japanisch aussah.
Aber irgendwie erinnern viele Figuren noch heute an Heidi.
Die großen Augen, auf die Sie anspielen, sind nicht von den Heidi-Produzenten vorangetrieben worden. Die lassen sich eher auf eine Entwicklung zurückführen, die von Osamu Tezuka ausging, der in seinen Comics immer mehr Wert auf die Ausarbeitung der Augen gelegt hat. Seine Mangas hatten einen großen Einfluss auf die Entwicklung. Heute existiert ein stereotypes Bild von Anime Figuren, die große Augen und mindestens noch einen Roboteranzug in der Garderobe hängen haben müssen. Das erklärt sich einmal aus der Faszination für Zukunftsszenarien, für die Anime immer ein Medium waren, aber auch aus einer Verweigerung oder der Suche nach Identität jenseits der japanischen. Das Besondere an den großen Augen ist, dass es eben keine asiatischen sind, deshalb sind die so groß.
Quasi zum Schönheitsideal korrigiert?
Korrigiert ja. Aber auch als eine Befreiung, weil man so eben nicht an einen bestimmten kulturellen Kontext gebunden ist.
Von „Godzilla“ bis „Ghost in the shell“ sind viele Ängste der Japaner auch in die künstlichen Welten, in sehr spezieller Science-Fiction eingebunden. Inwieweit spielt denn die Hiroshima-Bombe in der Entwicklung von Anime eine Rolle?
Die Hiroshima-Bombe in Japan ist ein noch immer sehr schwieriges Thema. Es ist bekannt, dass die Geschichtsaufklärung, wie wir sie für den 2. Weltkrieg fast exzessiv betreiben, in Japan nicht besonders stark stattfindet. Es gibt aber in Filmen und Comics diese Monster und Mutanten, die durch Strahlung jedweder Art aus dem Meer kriechen. Meiner Meinung nach können die tatsächlich als so eine Verarbeitungsleistung gelesen werden. Vor allem Godzilla, der nur ein paar Jahre nach dem Bombenabwurf aus dem Meer steigt und erst mal Tokio verwüstet. Und er hat unzählige Nachfolger – also rumort da was. Die Godzilla Filme werden auch nie abgeschlossen werden, genauso wie sich die Monster-Ikonografie in den Mangas und Animes fortsetzt. Es gibt also tatsächlich so eine Art von Aktualität der Bombe in der japanischen Kultur, und das Bedürfnis sich damit auseinander zu setzen. Diese Kreaturen sind ein gutes Medium, um sozusagen zwischen Technik, Kultur, Natur zu operieren und das zu verhandeln.
Die Filme sind immer ein Gesamtkunstwerk. Dominieren die Zeichner sie?
Die Filme sind Gesamtkunstwerke in dem Sinne, dass ein ganzes Team daran beteiligt ist und gemeinsam ein Kunstwerk schafft. Es gibt einige dominante Stellen in der Produktion, in der Entscheidungen getroffen werden, die den Gesamt-Look und den gesamten Film durchdringen. Das sind aber nur wenige Positionen. Das sind das Storyboard, das Concept Design, das Background Design, die Charakterentwürfe, die Animation und alles koordiniert vom jeweiligen Regisseur. Der Regisseur hat beim Anime eine wesentlich stärkere Rolle als im normal gedrehten Film, weil er tatsächlich die komplette Welt kontrollieren und die kreativen Entscheidungen sehr viel direkter umsetzen kann. So gibt es da beispielsweise wenig Verhandlungsspielraum für den Kameramann. Aber der Concept Designer hat dafür eine wesentlich stärkere Rolle, weil er die Welt erschaffen muss und erst mal nach seinen Kriterien entwirft.
Also sind die Zeichner in diesem Prozess eher „Arbeiter“ und nicht in der Position bestimmte Dinge selbst zu bestimmen?
In einem gewissen Sinn ist es nur noch die Flucht ins Detail. Wenn der Kreativ-Designer kommt, dann wird die persönliche Note in dem kleinen Rahmen, der noch übrig ist, gesucht. In manchen Fällen ist es aber auch so, dass die Vorgaben nur sehr lose sind und alles erfunden werden kann. Berühmtestes Beispiel ist ein Werbespot für Nissin Cup Noodles. Die Script Writer und der Regisseur gehen zum Produzenten: Der hat die Nissin Cup Noodles, sie haben einen Helden, der fährt auf einem Trike durch die Wüste und zum Schluss landet er auf dem Mond. Das ist der Pitch, die Grundlage der Geschichte, weil der Regisseur bekannt ist und der Zeichner auch, der Rest wird erfunden. In diesen glücklichen Fällen ist natürlich fast alles möglich, man muss eben nur ab und zu Nissin Cup Noodles ins Bild bringen.
Shinji Aramaki hat 2004 in der auf der DVD von „Appleseed“ im Interview gesagt, dass er bestimmte Szenen vorsätzlich einfach gezeichnet hat, um zu zeigen, welche technischen Möglichkeiten zu der Zeit möglich waren. Wie weit ist die Animation vorangeschritten?
Das Verblüffende an Anime ist, und das kommt hoffentlich auch durch unsere Ausstellung heraus, dass es trotz einem Jahrzehnt Digitalisierung immer noch aussieht wie Anime. Es gibt keinen großen Bruch und eines der wirklich verblüffenden Erkenntnisse ist, dass zwar computergenerierte Bilder an allen Stellen eingesetzt werden, sie zum Schluss so überzeichnet werden, dass es den typischen Anime-Look behält, der eben immer etwas Handgezeichnetes hat. Man sieht das am besten bei den Zeichnungen von Takashi Watabe, der ganze Räume als 3D Computermodelle entwirft, die als Computergrafik eigentlich relativ schnell gerändert werden könnten, er druckt sie aber nur als Rastermodell aus, zeichnet dann noch mehr Details ein, scannt alles wieder ab und danach ist es einfach eine handgezeichnete Hintergrundvorlage. Die Digitalisierung dringt tief in die Produktionsprozesse ein, wodurch zum Beispiel manche Hintergrundbilder, die wir in der Ausstellung sehen, relativ leer wirken. Bei den Layouts fehlen dann immer die entscheidenden Stellen, da steht dann nur ein großes 3D-CG, das ist der Aufruf an die Computergrafik da nachzulegen. Nur die Konzeptentwicklung und ersten Zeichnungen sind immer Bleistiftzeichnungen auf billigem Papier. Die tragen aber schon die Botschaft in sich.
Das Potential für die Zukunft?
Es geht schon in den letzten Jahren immer mehr darum, große Franchises um einzelne Figuren und einzelne Storys zu bauen. Die Welt in „Evangelion“ haben wir hier, aber es gibt Hunderte solcher Universen, wo es eine ganz enge Medienverknüpfung zwischen Computerspielen, Animes, Mangas, Figuren, Spiele für Handy und Internetportale gibt. Da wird versucht ein ganzes Verkaufssystem aufzubauen, das von verschiedenen Firmen bedient wird die alle auf einen Handlungsuniversum gründen. Das wird stark zunehmen und auch bei uns wahrscheinlich immer weiter wahrgenommen werden.
Bio:
Stefan Riekeles (35) studierte audiovisuelle Medien in Stuttgart, Neue Medien in Zürich und Kulturwissenschaft in Berlin. Seit 2002 ist er Projektleiter und Kurator für die „transmediale“, Festival für Kunst und digitale Kultur Berlin. 2008 gründete er zusammen mit Andreas Broeckmann „Les Jardins des Pilotes“.
„Proto Anime Cut – Räume und Visionen im japanischen Animationsfilm“
HMKV im Dortmunder U I Bis 9.10. I 0231 496 64 20
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