Obzwar bei der Wuppertaler Kunst- und Museumsnacht etliche Orte anzusteuern waren: Die Besucher blieben. Die Ausstellung, die Isabel Kerkermeier in der Galerie von Jürgen Grölle zeigt, entschleunigt die Wahrnehmung. Sie erschließt sich erst allmählich, verblüfft durch ihre vermeintliche Unordnung, sortiert sich dann sehr klar, lässt sich im einzelnen trotzdem kaum überschauen und bietet eine Menge an Seherlebnissen. Kerkermeiers plastische Arbeiten im Raum und an der Wand sind grundsätzlich abstrakt. Sie bestehen aus vorgefundenen Partien, aus gebogenen Holzflächen, gespannten Latexstoffen oder – in der Mehrzahl – glänzenden verchromten Metallgestellen, in die Kabel und farbig ummantelte Wäscheleinen geflochten sind. Die Gestänge, die oft aus dem Möbeldesign stammen, sind partienweise geknauscht und verdreht und ansonsten in ihrer Streckung und Biegung belassen, so dass die Herkunft erkennbar bleibt.
Aber sie bilden und umreißen nun Formen und dann erschließen sich Systeme, Ordnungen, ja, das ganze Arrangement erweist sich als genau austarierte räumliche Collage. In dieser reagieren die Partien aufeinander, wirken aufsässig und bleiben unberechenbar. Und indem die Stangen und Kabel ein Zeichnen im Raum vollführen, schweben sie lose in diesem, umgreifen ein Volumen und definieren dieses gerade durch ihre Durchlässigkeit. Sie lösen die feste Form auf und repräsentieren gleichzeitig Raumkoordinaten.
Etwas Weiteres, zugleich Klärendes, kommt hinzu, wenn – wie bei Jürgen Grölle – die Beleuchtung so eingerichtet ist, dass die Linien als Schatten auf der Wand wiederkehren und sich dort nun überschneiden. Die Plastiken gehen skulpturalen Fragestellungen nach, sie zeigen etwa Halten, Schweben und Fallen und führen eine feinnervige Balance vor Augen. Sie wirken leicht und sind doch stabil. Und dann kommt die Farbe besonders der Kabel und Kunststoffleinen ins Spiel, die vorgegeben, aber eben manchmal von der Künstlerin selbst aufgetragen ist. Farbigkeit setzt hier Akzente und verdichtet sich abschnittweise, sie wirkt wie hingegossen und als Tupfen. Isabel Kerkermeier nickt. Ja, als Malerei könne man ihre Arbeiten verstehen beziehungsweise sie als Plastiken unter diesem Gesichtspunkt rezipieren. Malerei ist schließlich noch ein eigenes Kapitel in ihrer Kunst, es gibt parallel zu den Plastiken die reinen, ebenfalls abstrakten Gemälde: „Es macht Spaß, von Zeit zu Zeit auf einer planen Fläche mit Farbe zu arbeiten.“
Satelliten und Hausengel
Isabel Kerkermeier wurde 1963 in Heidelberg geboren. Sie hat an der Kunstakademie in Stuttgart bei zwei ausgewiesenen Bildhauern studiert, erst bei Herbert Baumann und dann bei Guiseppe Spagnulo. Wenn Kerkermeier, die seit 2004 in Berlin lebt, über ihr Studium hoch über Stuttgart berichtet, dann spürt man, wie wichtig vor allem Spagnulo für ihr plastisches Denken gewesen sein muss. Spagnulo hat selbst schwere Töpfereien und Stahlplatten geschaffen, welche in der Biegung auseinander zu reißen drohen und als Fläche kraftvoll Raum schaffen. Im Grunde findet Isabel Kerkermeier schon in diesen frühen Jahren zu der Haltung und den Fragestellungen, denen sie bis heute in verschiedenen Werkgruppen parallel nachgeht. Am Anfang entstehen Arbeiten mit Stuckmarmor, den sie wegen seiner Materialbeschaffenheit, der porösen Oberfläche und der Lokalfarbigkeit schätzt und zu fragmentarischen Raumkörpern inszeniert. Die Malereien, die sie bereits damals erstellt hat, sind mitunter deutlich gegenständlich. In ihrem ersten Einzelkatalog 2001 beim BBK Stuttgart ist etwa eine zu sehen, „wespengleich ihn auszufüllen“ (2001), bei der in Lebensgröße ein Mann mit Schlips frontal auf den Betrachter zu schreitet. Das eine Bein ist erhoben, der Schatten fällt in drei Richtungen, der Oberkörper ist überstrahlt, also fast ganz weiß. Der Hintergrund löst sich in locker gefassten hellen Farbfeldern auf, die aus der Fläche in die Tiefe kippen. Statt des Kopfes sind spiralige Pinselschwünge zu sehen, die auseinander bersten, also da schon ein Zeichnen im Raum zeigen. Volumen und Linie führen unsere Lebenswirklichkeit ins Abstrakte hinein, handeln mit Licht und Schatten und beziehen den Betrachter unmittelbar ein.
Bei Jürgen Grölle nun sind die aktuellen plastischen Werke von 2011 und 2012 zu sehen. Sie sind in ihrer Konstruktion sparsam. Sie wirken filigran und im Detail vielgliedrig, mithin verspielt, auch wenn die Gestänge den Radius vorgeben. Bei einzelnen Arbeiten ist eine Lichtquelle integriert; ausgestellt ist auch eine Plastik, in der ein rotierender Scheinwerfer integriert ist, der durch Lamellen partiell verdeckt ist. Diese Arbeit scheint sich in den Raum auszudehnen, als wären verschiedene Stadien einer Explosion in Zeitlupe aneinander gesetzt, ein bisschen wie in Antonionis Film „Zabriskie Point“. Anderen Arbeiten könnte man geradezu menschliche Temperamente zuordnen. Bei allem Technoiden und Industriellen, aller klaffenden Abstraktion haben sie doch etwas Wesenhaftes. Vielleicht liegt dies auch daran, dass Isabel Kerkermeier ihre Arbeiten entsprechend den Dimensionen des Körperlichen anlegt. Das Maß ist der Mensch mit seiner Größe und seiner Spannweite.
Auf dem neuesten Katalog von Isabel Kerkermeier ist ihr Name in einer kursiv geschwungenen Schreibschrift gesetzt, die sich mit dem Barock assoziieren lässt. Ihre Werke sind eben auch lakonisch üppige Wolken oder ein Satellit aus der Frühzeit der Weltraumtechnik, der mit einem Meteoriten kollidiert ist. Dann wieder erinnern sie an die Hausengel bei Max Ernst und zugleich sind sie nicht mehr und nicht weniger als Deklinationen geometrischer Formen, welche zugleich noch in ihre Bestandteile zerlegt sind. Spröde und sehr attraktiv also!
„Isabel Kerkermeier – Blast!“ | bis 3.11. | Grölle pass:projects, Friedrich-Ebert-Straße 143e, Wuppertal | www.passprojects.com
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