Zugegeben, die Vorbehalte überwogen zunächst. Was hat eine Ausstellung zum heutigen Alltagsleben in China im Historischen Zentrum in Wuppertal-Barmen zu suchen? Und kann das überhaupt gutgehen, wenn der Fotograf neben dem Brotberuf und dann im Ruhestand, also sozusagen erst in seiner zweiten Karriere dem professionellen Anspruch gerecht werden möchte und ihn auf seine Urlaubsziele anwendet? Weit gefehlt! Die Ausstellung des Kölners Heinrich Becker könnte genauso in einem Museum zur zeitgenössischen Kunst hängen, in dieser Präsentation.
Zu sehen sind Fotografien, überwiegend in Farbe, die Becker auf einer Reise im Frühjahr 2014 in Peking und in Lhasa, der Hauptstadt von Tibet, aufgenommen hat. Er fotografiert auf der Straße, aber nichts ist zu sehen von wimmelnden Menschenmengen oder den Legionen an Fahrzeugen. Stattdessen fokussiert Becker einzelne stille Szenen. Das Sujet ist in das Zentrum des Bildes gerückt, die Darstellung ist kompositorisch geordnet. Im Falle der Porträts setzt dabei ein feines Psychologisieren ein. Da ist eine jüngere Frau mit langen schwarzen Haaren vor einer dunklen Holzwand zu sehen. Sie trägt eine schwarze Lederjacke, unter dem dunkelblauen Schal lugt eine Perlenkette hervor. Sie lässt sich beim Telefonieren fotografieren, spitzt dazu die geschminkten Lippen und blickt sogar, als Frau, zum Fotografen: In ihrem offensiven Look steht sie für ein Auftreten, wie es in westlichen Metropolen gängig ist. Am gleichen Ausstellungssegment befindet sich die Aufnahme eines älteren chinesischen Bauers, die stärker auf das Gesicht konzentriert ist. Der Bauer trägt einen grauen Mantel und eine Schirmmütze, der Blick ist nach unten gerichtet. Alles Auffällige hat er vermieden – die beiden Bilder repräsentieren hier den Kontrast von Sein und Schein, Extraversion und Introversion.
Ausgangspunkt der fotografischen Betrachtungen von Heinrich Becker sind die Menschen in Peking und Lhasa in ihrem alltäglichen Leben, dabei verfangen zwischen Tradition und Moderne, Individuum und Masse, Privatheit und öffentlicher Gesellschaft. Die Unterschiede, die durch den kulturellen, religiösen und sozialen Kontext gegeben sind, stellen sich behutsam ein, in der Kleidung und in den Accessoires, auch in der Mimik und der Körperhaltung. Es geht Becker um die feinen Zwischentöne, und diese finden sich überall. Dabei bewahrt er etwas Respektvolles. So erklärt sich bestimmt auch, dass ihn die Köche in den Garküchen am Straßenrand und deren Gäste beim Essen so nahe heran lassen. Aus Einzelbildern hat Heinrich Becker eine Serie in gesättigten Farben zusammengestellt.
Daneben hat Becker ein Gespür für das sensationelle dokumentarische Bild. Das betrifft, neben den Rikscha-Fahrrädern und den Motorradfahrern, vor allem die Aufnahme mit den fünf jungen Frauen mit schwarzen zusammengebundenen Haaren und in schwarzer Kleidung neben einem weißen Van. Sind sie auf dem Weg zu einem Mode-Shooting oder findet dieses nicht gerade statt – und wird damit wieder von Heinrich Becker fotografiert?
Beckers Bilder sind Zustandsbeschreibungen einer Gesellschaft im Wandel. Dazu hält er die Augen auf und hat noch einen subtilen Humor, der auch seine eigene Rolle beleuchtet. Nirgendwo wird dies deutlicher als bei einem Foto, das die Ausstellung sozusagen einleitet. Zu sehen ist das Ambiente einer Wirtschaft, an einem Tisch sitzen junge Chinesen, neben sich eine Reihe gefüllter Biergläser, an der Wand dahinter gerahmte Fotos mit Gästen und Ansichten von Berlin. Ist in einer der spiegelnden Glasscheiben nicht auch der Fotograf zu sehen, sozusagen auf Augenhöhe mit den Bieren, aufgenommen im „Landgraf“ in Peking?
„fern – fremd – vertraut. Alltagsleben in China“ | bis 9.8. | Museum für Frühindustrialisierung | 0202 563 43 75
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