Eine Ehrerbietung der ungewöhnlichen Art für Pina Bausch: Das Wolfgang-Schmidtke-Orchestra gab ein Konzert unter dem Titel „Nimm doch die Pfeife aus dem Maul, du Hund“ – ein Zitat aus Kurt Weills „Surabaya-Johnny“. Fünfzehn tolle Musiker spielten Werke aus Bausch-Stücken. Genauer müsste man sagen: Sie variierten Werke, die sonst auch mit Bausch verbunden werden – und das im Opernhaus, sonst Ort des Tanztheaters und seiner unverkennbaren Ästhetik. Das war gewiss eine „Hommage“, wie es der Meister vorab nannte. Aber ebenso stimmt: Wo sonst ein Fest der Bewegung die Bühne einnimmt, nahm heute ein Orchester Platz.
Es ist wahrscheinlich keine sehr häufige Wahrnehmung an diesem frühen Sonntagabend, dass Zuschauer sich an „Fürchtet euch nicht“ oder „Café Müller“ erinnert fühlen. Diese beiden Klassiker der Ikone (vielleicht sind sie auch selbst schon ikonisch) sind es, zu denen der Musiker und Komponist Arrangements verfasst hat. Das heißt: erstens zu Werken von Henry Purcell, zweitens von Kurt Weill – zweihundertfünfzig Jahre entfernt.
Unverkennbare Ästhetik – bei einem Stück wie „Café Müller“ hieß das sonst etwa: Männer tragen trauernde Frauen, Körper wirken mal massig und kraftvoll, dann wieder völlig kraft- und willenlos. Im Zusammenspiel mit den wehmütigen Arien des Barockkomponisten mochte sich das dann noch verstärken: Waren die Figuren auch der Führung durch die Musik unterworfen? Man konnte es fragen. All das kann natürlich heute nicht stattfinden, und soll es auch nicht. Entstanden sind Variationen, die ganz als typische Jazzstücke daherkommen. Was das Publikum daher erlebt und genießt, sind erfrischende Kabinettstückchen, die vielleicht nicht für sich stehen, aber doch nicht zu Bausch in ein Spannungsverhältnis treten, sondern zu Musiktiteln. Aufregend genug.
Aus den in „Café Müller“ vorkommenden Purcell-Titeln sind dabei neu zu hören: „When I’m laid in earth“, „See even night herself is here“, „Now Winter come slowly“ sowie „Oh let me weep, forever weep“. “Fürchtet euch nicht” ist bekannt als Teil zwei des Bausch-Abends „Die sieben Todsünden“. Von seinen Songs aus Kurt Weills Feder erklingen ohne Brecht-Texte heute: „Surabaya Johnny“, „Bilbao Song“, „Matrosen Song“, „Der Song von Mandeley“, „Barbara Song“ und „Alabama Song“. Schmidtke übernimmt Leitung und Saxofon. Michael Losch ist verantwortlich fürs ständig präsente Klavier. Schlagzeug spielt Kurt Billker. Am Bass steht Harald Eller und gibt schon früh Soli – so wie im Verlauf mehrere Blechbläser, die sich aus dem Ensemble lösen und bravourös hervortreten.
Es ist generell immer schön zu beobachten, wie sich ein Stück aufbaut. Beispiel: Das vierte und letzte von Purcell. Danach ist Pause. Den Einstieg geben Schlagzeug und ein rhythmischer Kontrabass. Auf Schmidtkes Handzeichen setzen Bläser ein. Später SolistInnen als starke Setzung: Kristina Brodersen am Altsaxofon, danach Stephan Meinberg an der Trompete. Spannend im Aufbau dann eine auffällige Pause gegen Ende, ehe alle zum Ausklang neu einsetzen. Das kann man alles goutieren , ohne etwas von Barock zu wissen – und erst recht ohne „Café Müller“ zu kennen. Bei Bedarf muss man schon nachlesen, dass der Titel „Let me weep“ ist: Denn so wenig, wie es Bausch-Bilder evoziert, so wenig klingt es nach Klagen.
Nach der Pause dann Weill: Und da kommt ins Spiel, dass dessen Werk nun einmal anders im Kopf ist. „Es ist auch interessant, ab wann man den Song erkennt“, bemerkte Schmidtke zu Beginn dieses zweiten Teils. Und in der Tat: Mal früher, mal später mochte sich hier oder dort eine Assoziation verfestigen, mochte etwa der „Surabaya-Johnny“ sich herausschälen, markant, aber im neuen Gewand. So weit vom Jazz entfernt wie vor der Pause war man nun ja nicht, aber wenn ein bekannter Titel nun als neues Jazzstück erschien, war das auch hier ein Erlebnis. „Coole Nummer!“ war denn auch schon mal als spontane Anerkennung in den Reihen zu hören.
Kaum also dass an diesem Abend Tanz-Szenen vor dem inneren Auge erscheinen. Zu sehr steht der Bezug Schmidtke-Weill, Schmidtke-Purcell im Mittelpunkt – der kreative Zugriff auf die Komponisten mit Jazzmitteln. Das gilt trotz der Tatsache, dass es erst im vorigen Jahr eine neue Art der Aufführung gab, bei der die Musik in ein neues Verhältnis trat zum Tanz: Im November 2018 wurden Purcells Titel erstmals live vom Wuppertaler Sinfonieorchester eingespielt. Das Wort mag allzu banal sein angesichts der Tatsache, dass reale Musiker die Begleitung lieferten. Aber dass es genau dies tat, nämlich Begleitung zu bleiben: Für diesen Eindruck genügt ein Blick auf online verfügbare Auszüge der Aufführung damals. Die Klänge blieben gekoppelt an die Szenen, liefen neben den fließenden Bewegungen, die durch diese Parallelführung vielleicht nur noch traumwandlerischer erschienen.
Heute kommentiert die Musik nichts. Jazz zeigt, was er kann, nämlich was er mit bestehenden Stücken machen kann. Zum Beispiel kann er schmissige Neuninterpretationen daraus machen, die Können erfordern und dem Zuhörer Spaß machen. Dass die Stücke auch in Bausch-Werken vorkommen, ist dabei im Grunde nur Anlass – fast schon Hintergrundwissen. Das Publikum erlebte jedenfalls einen entdeckungsreichen Jazz-Abend.
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