Nein, die Sachen sind nicht zu benutzen. Axel Lieber hat einzelne seiner Objekte im Berliner Atelier so angeordnet, dass sie sich aufeinander beziehen und doch autonom bleiben. Sie hängen an der Wand und von der Decke und stehen auf dem Boden, jeweils handlich im Format: Kleidung, Schuhe, Kartonverpackungen, Landkarten, Mobiliar. Teils sind sie verkleinert oder verweisen als Fetzen und Stege auf ihre frühere Form. Die mittigen, sich kreuzenden geraden Schnitte, welche die Stuhlflächen unterteilen, „verraten“, wie das Möbelstück auf Puppengröße reduziert wurde. Und die Aufdrucke und Farben auf den Streifen lassen das jeweilige Ausgangsmaterial erkennen. Dies betrifft den Kubus aus Kartonleisten, in dem ein ebensolcher Kubus hängt, darin wieder ein Kubus, so dass man durch den Wald der Vertikalen schauen kann und deren Rückseiten vor Augen hat. Zu sehen sind die Splitter von Comics: früher von Donald Duck, später von Tintin.
Aber egal, sagt Axel Lieber, es gehe nicht um die Comics selbst, sondern um ein bestimmtes Klima und eine bestimmte Zeit. Und es geht auch um das Alltägliche, als Repräsentation unserer Gesellschaft. Das betrifft ebenso die weiße Tasche aus steifem Papier, deren Innenflächen schwarz gestrichen sind. Dadurch werden die ausgeschnittenen Kreise, die kleinere Scheibenformen aussparen, zu Augen, wie wir sie von Comics kennen. Hier und bei den spitz zulaufenden „Schultüten“ mit ähnlichen runden Öffnungen denken wir an wesenhafte Erscheinungen, die, stehend auf dem Boden, mit uns in Kontakt treten. – Auch das ist ein grundsätzlicher Aspekt in Liebers gesamtem Werk: Indem sich die Dinge dem vertrauten Zugriff entziehen, werden sie fremd und einzigartig, wie Geschöpfe.
Axel Lieber erforscht seine Gegenstände akribisch, er hinterfragt ihre Beschaffenheit und auch inwieweit sie als Statussymbole oder tradierter Komfort verstanden werden könnten. Er schafft neue Bedeutungsebenen durch einfache, aber raffinierte Verschiebungen des Vertrauten, welche Hülle und Form und eben die Dimensionen betreffen.
Lieber wurde 1960 in Düsseldorf geboren. Er hat an der dortigen Kunstakademie bei Tony Cragg und Irmin Kamp studiert. In Düsseldorf bildet er mit vier Kollegen zeitweilig die Gruppe „Haus Waende“. 1992 gründet er mit Hans Hemmert, Thomas Schmidt und Georg Zey die Gruppe „inges idee“. Ein grundlegender Unterschied: Während bei „Haus Waende“ jeder der Künstler eigene Beiträge einbrachte, entstehen die Werke von „inges idee“ in gemeinschaftlicher Arbeit. Als Aufträge reagieren sie auf den jeweiligen öffentlichen Raum mit seinen Dimensionen. Als Spezialisten für Kunst an und vor Architektur sind „inges idee“ nach wie vor aktiv, gefragt auf der ganzen Welt. Lieber selbst lebt mittlerweile im Wechsel in Berlin und Stockholm. Die Gegenstände und Materialien seiner Arbeiten folgen der Ökonomie des Reisens, gefunden etwa auf Flohmärkten und in Antikläden beider Städte.
Programmatisch für seine Arbeit steht bis heute der „Kleiderschrank“ (1989): Zunächst ein zufälliges, sodann umgewidmetes Fundstück, besteht der Schrank lediglich aus wenigen Latten. Er ist Gerüst ohne Funktion und so ein idealer Anlass, um ihn auf seine skulpturale Substanz hin abzuklopfen. Dies führt in der Folge zu weiteren Arbeiten, welche sich direkt dem Thema Skulptur widmen. Dazu gehört die Beschäftigung mit Schuhen. Diese erinnern in seiner Arbeit bisweilen an den bildhauerischen Sockel. Dann wieder näht er das Schuhpaar zusammen. Oder er komprimiert den Sportschuh in einer runden abstrakten Form, gesehen wie ein Kreisel in enormer Geschwindigkeit. Die Farben mit dem Wiedererkennungseffekt bestimmter Label sind rasantes, rundum laufendes Band, bedrohlich und vertraut zugleich, jedenfalls: Ausdruck unserer Zeit.
„Axel Lieber – Sollbruchstellen“ | bis 20.11. | Hengesbach Gallery | 0202 75 35 32
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