Die monumentalen Buntstiftzeichnungen, die Architektur in fluchtenden Farblinien fixieren, dabei Fassaden und Innenräume verschränken, die durchlässig für Raumtiefen sind, bilden einen Schwerpunkt im Werk von Silke Schatz. Überlebensgroß, dabei lapidar von der Papierrolle geschnitten, verbinden sie präzise Bestandsaufnahme und Sprödigkeit mit vitalem Ereignis und Geschichte. Geschwindigkeit mit Langsamkeit. In der entschiedenen, geometrisch bestimmten Klarheit der Linien und Strichbündel, werden Motive und Themen zum Urbanismus, zum architektonischen Wandel, aber auch zum Umgang mit privater und kollektiver Erinnerung angesprochen. Damit wurde Silke Schatz ab Ende der 1990er Jahre bekannt und etwa zur Manifesta 2004 nach San Sebastian eingeladen. Fortan zählt sie zu den wichtigen Künstlern im Bereich der Zeichnung.
Die Buntstiftzeichnungen sind nicht das einzige Medium, in dem Silke Schatz arbeitet, aber sie takten ihr Oeuvre. Schnipsel aus derartigen Zeichnungen können sogar in anderen Werken wiederkehren. Im Neuen Kunstverein im Kolkmannhaus ist nun die neueste Zeichnung zu sehen. Sie zeigt das Schauspielhaus Wuppertal als gläserne Struktur aus Aufriss und Grundriss. Auch wenn das Gebäude wiedererkennbar ist, lässt sich nicht alles aufdröseln, darum geht es Silke Schatz gerade nicht. Ihr liegt vielmehr an der Durchdringung objektiver und subjektiver Ebenen. Sie spinnt gewissenhaft Assoziationsfäden, die im Kopf weiterzudenken sind. Sie verdeutlicht die Architektur und spricht implizit das traurige Ende des Theaters an. Natürlich denken wir an das Tanztheater von Pina Bausch. Vielleicht weisen die Kleidungsstücke, die daneben an einem grünen Garderobenständer hängen, auf Theater und Theatralik, Fremdheit und kulturelle Identität. Im Kolkmannhaus separiert der Ständer die Zeichnung vom Eingangsbereich und forciert ihre frontale Ansicht. Und gibt der Ständer nicht auch der seitlichen Türöffnung, hinter der sich ein Lager befinden könnte, einen Sinn? Übrigens stammen die Kleidungsstücke aus dem familiären Umfeld von Silke Schatz – autobiographische Momente schwingen in den meisten ihrer Arbeiten mit. Hier sind sie vor allem Surrogat für den theatralischen Kontext.
In Wuppertal arbeitet Silke Schatz dezidiert mit dem Ausstellungsraum. Hinter den Säulen sind Neonröhren angebracht, welche den Raum ausleuchten und wie eine Unterführung aussehen lassen. Die skulpturalen Szenen erhalten den Charakter von Relikten, wirken teils abgestellt und tragen augenblicklich Momente der Erinnerung. Licht erweist sich als Leitmotiv überhaupt im Werk von Silke Schatz. Die Blütenkelche der Physalis, eines Nachtschattengewächses, leuchten von innen. Sie betonen die Künstlichkeit des Kübels, in den sie einbetoniert sind. Anfassen möchte man nichts – die Giftigkeit von Asbest deutet sich an, Silke Schatz erwähnt es im Gespräch, ein Problem generell in vielen Städten.
Aber noch ein weiteres Mal geht es um Wuppertal, im Film, der auf einem Monitor an der Stirnwand die Ausstellung sozusagen beschließt. Silke Schatz hat mit ihrem i-Phone eine Fahrt mit der Schwebebahn aufgenommen, mit dem Sound der Umweltgeräusche in Echtzeit. Alles ist alltäglich, unspektakulär, wirkt austauschbar, aber ohne es recht zu merken, nähern wir uns dem „Eigentlichen“ von Wuppertal. Über seine urbanen Sünden und kleinen Schönheiten hinaus erfahren wir den besonderen Klang dieser Stadt.
Indes ist konsequent, dass am Anfang der Ausstellung die Selbstvergewisserung der Künstlerin, die aus Celle stammt, in Braunschweig studiert hat und in Köln lebt, steht: Silke Schatz zeigt die fast lebensechte Puppe „Ich“ mit Socken im Look der 1970er Jahre, beleuchtet von einer Stehlampe, deren Glühbirne als einziges Licht außerhalb der Öffnungszeiten leuchtet: Nacht in der Großstadt eben.
„Silke Schatz – Sunshine Day and Night“ | noch bis 12. Januar im Neuen Kunstverein Wuppertal | www.neuer-kunstverein-wuppertal.de
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